Paramedizin auf dem Vormarsch

Paramedizin auf dem Vormarsch

22. März 2021 Schlagwörter anthroposophische Medizin, Behandlung, Heilpraktiker, Homöopathie, Pflanzenheilkunde, PhytotherapieKommentare 1

Die Paramedizin ist ein ertragreiches Geschäft, ihre Wirkung lässt sich wissenschaftlich aber nicht nachweisen.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten hat sich abseits der wissenschaftlichen Medizin (abschätzig auch gerne als Schulmedizin bezeichnet) ein unübersichtlicher Bereich etabliert, in welchem Maßnahmen und Stoffe für therapeutische Zwecke zum Einsatz kommen, deren heilende Wirkung nicht bestätigt, größtenteils – zum Teil seit vielen Jahren – sogar widerlegt ist. Dieser Bereich wird als Alternativmedizin (im weiteren Verlauf als Paramedizin) bezeichnet, obwohl sie den von deren Vertreter*innen erhobenen Anspruch, eine sinnvolle Alternative oder nützliche Ergänzung zur wissenschaftlichen Medizin zu bieten, in keiner Weise einlösen kann. Manche der bei paramedizinischen Ansätzen gemachten Grundannahmen sind derart absurd, dass sie zu dem gesamten naturwissenschaftlichen Erkenntnisgebäude, das in den letzten 200 Jahren errichtet wurde, im Widerspruch stehen. Die Gründe für den wachsenden Zuspruch sind vielfältig und können an dieser Stelle nur angerissen werden.

Das medizinische Klassensystem

Einer der Gründe für den Erfolg der Paramedizin beruht auf der Tatsache, dass das Gesundheitssystem seit Jahren zu einem Klassensystem umfunktioniert wird. Die medizinische Grundversorgung wird stetig heruntergefahren und auf wenige Behandlungen begrenzt. Das Verhältnis zwischen Ärzt*innen und Patient*innen ist zu einem Geschäft verkommen. Heilung und Prävention stehen der Erstattung von Kosten hintenan. Acht Minuten, so steht es in einem von der Barmer-GEK veröffentlichten Arztreport, haben Ärzt*innen Zeit, um Untersuchungen vorzunehmen, eine Diagnose zu stellen sowie einen Behandlungsplan auszuarbeiten. Ein Erstgespräch bei Homöopath*innen, das zum Vergleich, dauert in der Regel über 60 Minuten. Dieser Unterschied schlägt sich auch in der Abrechnung nieder. Laut den Recherchen von Christian Weymayr und Nicole Heißmann ermöglicht es die Gebührenordnung für eine Homöopathische Erstanamnese bis zu 183,60 € abzurechnen. Auch für die Folgeanamnesen können bis zu 91,80 € geltend gemacht werden. Bei einem konventionellen Patient*innengespräch können höchstens 30,60 € abgerechnet werden. Die Paramedizin ist längst zu einem ertragreichen Geschäft geworden, auch wenn viele das nicht sehen wollen. Pharmaunternehmen als auch Ärzt*innen und Krankenkassen haben diesen Markt schon vor Jahren entdeckt und ernten nun die Früchte ihres Lobbyismus. Rund neun Milliarden Euro werden in Deutschland jährlich für alternative Heilprodukte ausgegeben, wobei fünf Milliarden die Patient*innen selber bezahlen und vier Milliarden die Krankenkassen erstatten. Der Umsatz homöopathischer Produkte lag in 2014 bei 530 Millionen Euro und damit um 9,4 Prozent höher als ein Jahr zuvor.

Die besonderen Therapierichtungen

Der Gesetzgeber in Deutschland hat einen erheblichen Anteil an dieser Entwicklung, gesteht er doch drei Therapierichtungen eine Sonderrolle zu, die im erheblichen Maße von dieser Sonderstellung profitieren. Es handelt sich um die Homöopathie, die anthroposophische Medizin und die Phytotherapie (Pflanzenheilkunde). Sie werden im Sozialgesetzbuch als besondere Therapierichtungen bezeichnet und werden auch explizit im Arzneimittelgesetz erwähnt. Die in diesen Richtungen zum Therapieren und Diagnostizieren verwendeten Stoffe bzw. Verfahren sind vom strengen Nachweis der Wirksamkeit befreit. Das Sozialgesetzbuch V ermöglicht die Kostenübernahme durch Krankenkassen, bei „Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit (…) nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der jeweiligen Therapierichtung“ (§135 Abs. 1). Dieser als „Binnenkonsens“ bezeichnete Aspekt bedeutet, dass z. B. Homöopath*innen ohne wissenschaftliche Prüfung selbst festlegen können, ob ein Stoff therapeutisch wirksam oder ein Diagnoseverfahren sinnvoll ist. Übertragen auf den Bildungsbereich würde das bedeuten, dass sich Schüler*innen ohne Überprüfung das Abitur selbst ausstellen können, wenn sie von sich selbst den Eindruck gewonnen haben, dass sie genügend Kompetenzen erworben hätten. Was für den Bildungsbereich undenkbar wäre, ist in der Medizin die Realität. Während es rund 14,2 Jahre dauert, bis ein medizinisches Produkt auf dem Markt verkauft wird, reicht den besonderen Therapierichtungen der Eintrag ins Register der zuständigen Bundesbehörde.

Die Homöopathie

Die Homöopathie ist in Deutschland die mit Abstand beliebteste und bekannteste paramedizinische Disziplin. Sie geht auf Eingebungen des Arztes Samuel Hahnemann Ende des 18. Jahrhunderts zurück. In der Homöopathie wird davon ausgegangen, dass sich die pharmakologische Wirkung eines Stoffes durch ritualisierte Verdünnung in einem Lösungsmittel, wie z.B. Wasser, außerordentlich erhöhen ließe. Die Homöopath*innen sprechen bei ihrer Verdünnungstätigkeit entsprechend vom „Potenzieren. Erklärt wird die angebliche Verstärkung der Wirkung mit geheimnisvollen strukturellen Veränderungen im Lösungsmittel, die durch eine bestimmte Schütteltechnik dauerhaft in der Flüssigkeit fixieren würden. Mit anderen Worten, Wasser (H2O) wird ein Gedächtnis zugeschrieben. Interessant in diesem Zusammenhang sind die beiden folgenden Aspekte: Erstens, anschließende Bewegungen, z. B. beim Transport oder bei der Einnahme des Produkts, können der Struktur angeblich nichts mehr anhaben. Zweitens, auch die Resorption durch die Darmwand und den Transport im Blut würde die Prägung nach homöopathischer Auffassung unverändert überstehen. Und Drittens, die im Lösungsmittel mit Sicherheit vorhandenen Verunreinigungen werden nach homöopathischer Auffassung beim Verdünnen nicht mitpotenziert. Die Absurdität findet ihren Höhepunkt in der Tatsache, dass homöopathische Produkte angeboten werden, die bis zu 5000-mal nacheinander jeweils 1 zu 100 verdünnt und bei jedem Verdünnungsschritt geschüttelt wurden. Ein Beispiel soll die Absurdität verdeutlichen: Ein homöopathisches Präparat mit der Bezeichnung C30 entspricht der Lösung von 1g Kochsalz in einem Lösungsmittelvolumen einer Kugel mit dem Umfang der Umlaufbahn der Venus. In diesem Zusammenhang sei die ehemalige nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin Barbara Steffens zitiert, die als Verfechterin der Paramedizin in einem Interview erklärte, „Ich mache mich als Ministerin dafür stark, dass in unserem Gesundheitssystem und damit in der Schulmedizin auch Alternativmedizin wie die Homöopathie integriert wird. Ich denke, das ist wichtig, damit nicht nur einzelne Symptome behandelt werden, sondern der Mensch als Ganzes. Zum Glück gibt es schon viele Ärztinnen und Ärzte (…), bei denen auch Arnica C30 längst fester Bestandteil der Praxis ist.“ Dass sie über keinerlei medizinische Ausbildung bzw. Fachkenntnis verfügt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.

Heilpraktiker – ein fragwürdiger Beruf

Alternativmedizinische Verfahren werden im Schwerpunkt auch von den zurzeit in Deutschland etwa 20.000 Heilpraktiker*innen eingesetzt. Sie dürfen keine verschreibungspflichtigen Medikamente verordnen, dies ist zu Recht den Ärzt*innen vorbehalten. Ein bedeutendes Problem bei diesem Berufsstand besteht darin, dass es keine nennenswerten Qualitätskontrollen gibt. Den Beruf dürfen alle ausüben, die die entsprechende Prüfung beim Gesundheitsamt bestanden haben. Diese dient lediglich dem Nachweis, dass man in der Ausübung des Berufs keine Gefahr für die Volksgesundheit darstellt. Naturwissenschaftliches Hintergrundwissen und Verständnis werden nicht verlangt. Trotz des mangelhaften Mindeststandards vertraut den Heilpraktiker*innen in Gesundheitsfragen fast die Hälfte der Deutschen. Wie sehr dieser Bereich einer stärkeren Aufsicht durch die Gesundheitsbehörden bedarf, zeigen nicht zuletzt die Todesfälle im Biologischen Krebszentrum in Bracht (Brüggen). Dort wurden Krebspatienten eine Injektion eines in Deutschland nicht als Arzneimittel zugelassenen Präparates (3-Bromopyruvat) verabreicht. Verantwortlich dafür ist Klaus Ross, Heilpraktiker mit 20jähriger Berufserfahrung als Produktmanager. Die Staatsanwaltschaft ermittelt in drei Todesfällen sowie etwa 70 weiterer Todesfälle von früheren Patienten.

Glaubensmedizin

Eine sinnvolle Alternative zur wissenschaftsbasierten Medizin, das zeigt das Beispiel Homöopathie ebenso wie alle anderen paramedizinischen Produkte und Maßnahmen, kann es nicht geben. Existiert der Nachweis der Wirksamkeit einer therapeutischen Maßnahme, die über den Placebo-Effekt hinausgeht, sollte man konsequent von Medizin sprechen. Da die Paramedizin keine der medizinischen Qualitätskriterien erfüllt, stattdessen vom Glauben der Patient*innen lebt, diesen würde mit der Verabreichung von Globuli (Homöopathie) oder Mistelprodukten (anthroposophische Medizin) geholfen, könnte man auch von Glaubensmedizin sprechen. Das wäre insoweit konsequent, da hinter den Therapiemaßnahmen in der Regel geschlossene Welt- und Menschenbilder stecken, die einer stärkeren Thematisierung und kritischen Hinterfragung bedürften. Insoweit wäre es zu begrüßen, würde im Schul-Curriculum das Thema Wissenschaftstheorie verankert und die gute Begleitung und Beratung von Patient*innen in der Ausbildung von angehenden Ärzt*innen zum Standard erhoben werden. Doch am Ende gilt noch immer die Regel, eine Erkältung dauert ohne Behandlung 14 Tage, mit Behandlung zwei Wochen.

Christoph Lammers

Christoph Lammers hat in Münster und Trier Politik- und Sozialwissenschaften studiert, Nach seiner Tätigkeit an der Universität Dortmund lebt er in Berlin. Er ist Chefredakteur des politischen Magazins MIZ (Materialien und Informationen zur Zeit). Kategorie Alltag mit MS, Behandlung der MS, ZIMS 3 Schlagwörter anthroposophische Medizin, Behandlung, Heilpraktiker, Homöopathie, Pflanzenheilkunde, Phytotherapie

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